„Interrail hat mich zum Europäer gemacht“

Artikelbild: Mit Interrail durch Europa. Interview mit Martin Speer, Initiator von #FreeInterrail

Seit 2018 können sich junge Menschen in ganz Europa mit 18 Jahren auf ein kostenloses Interrail-Ticket bewerben. Die Idee dazu hatten Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr, die mit ihrer Initiative #FreeInterrail bis heute Hunderttausenden die Möglichkeit eröffnet haben, Europa auf der Schiene zu entdecken. Interrail bedeutet für viele Menschen viel mehr als nur von A nach B zu kommen: Es eröffnet neue Perspektiven, spontane Begegnungen und unvergessliche Erlebnisse. Wir haben mit Martin Speer darüber gesprochen, was Interrail für ihn bedeutet, wie es um die Initiative steht und welche Tipps er für angehende „Interrailer“ hat.

Martin, du bist mehrfach mit Interrail durch Europa gefahren. Welche Geschichte hast du erlebt, die du heute noch gern erzählst?

Jede einzelne Interrailreise war voller Geschichten. Besonders eindrücklich war der Nachtzug zwischen Istanbul und Bukarest. Nicht nur, weil wir knapp 24h unterwegs waren und uns langsam durch idyllische Bergtäler schlängelten, sondern weil wirklich Menschen aller Generationen und Hintergründe mit dem Zug gefahren sind.

Hat Interrail dein eigenes Verständnis von Europa verändert oder geprägt?

Interrail hat mich zum Europäer gemacht. Für mich war Europa vorher etwas abstraktes und fühlte sich weit weg an – geografisch, politisch, emotional. Durch die Bahnreisen habe ich im wahrsten Sinne des Wortes „erfahren“, was es heißt, Europäer zu sein. Wie einzigartig, schützenswert, aber auch zerbrechlich das Europäische Einigungs- und Friedensprojekt ist. Und, dass trotz aller Differenzen, uns sehr viel auf diesem Kontinent eint.

War das auch der Moment, in dem du dir gedacht hast: Mehr junge Menschen sollten so eine Erfahrung machen können?

Auf unserer ersten großen Interrailreise im Jahr 2014 haben mein Kollege Vincent-Immanuel Herr und ich einen Zwischenstopp in Wien eingelegt. Beim Abendessen mit dem Autoren Robert Menasse sind wir auf die #FreeInterrail Idee gekommen. Wir fragten uns: Wie wäre es, wenn die EU jedem jungen Menschen zum 18. Geburtstag einen Gutschein für ein kostenfreies Interrailticket schenkt, man sechs Jahre Zeit hat, diesen einzulösen und damit einer ganzen Generation eine Europareise ermöglicht wird? Sozusagen ein Erasmus-Programm für alle!

Na das ist ja eine super Idee! Wie ist es denn weitergegangen?

Die Idee hat schnell viel Unterstützung in der Politik gefunden. Im Jahr 2018 hat die EU-Kommission dann auf Wunsch des EU-Parlaments ein Pilotprojekt gestartet. Es war so erfolgreich, dass die Idee als DiscoverEU-Programm ab dem Jahr 2021 ein fester Bestandteil der Erasmus+ Familie wurde. Seitdem werden jährlich rund 70.000 Tickets an 18-jährige vergeben. Seit dem Jahr 2018 haben sich schon über 1,5 Millionen junge Menschen beworben. Das hat alle Erwartungen übertroffen. DiscoverEU wurde aus dem Stand eines der beliebtesten Mobilitäts- und Jugendprogramme der EU.

#FreeInterrail beim Z2X Festival der ZEIT, wo die Idee vorgestellt wurde
Martin Speer (links) und Vincent-Immanuel Herr beim Z2X Festival der ZEIT, wo sie die #FreeInterrail Idee vorgestellt haben.

Ein beachtlicher Erolg! Gibt es denn eine realistische Chance, dass irgendwann jede und jeder ein Ticket erhält?

Wir werben weiter dafür. Viele Parlamentarier im Europäischen Parlament und auch in den  Nationalstaaten befürworten eine Ausweitung des Programms auf alle 18-jährigen. Noch scheitert es an den Kosten. Wir sind aber überzeugt: Die Idee würde nicht nur Europas Einheit langfristig absichern, sondern auch einen Boost für die Bahnmobilität, den Arbeitsmarkt und die Qualifikation junger Leute bedeuten. Es wird am Ende mehr einbringen, als es kostet. Das Gute ist, mittlerweile hat die Idee Regionen und Städte inspiriert eigene Programme aufzusetzen.

Was hat es denn mit diesen Interrailprogrammen der Städte und Regionen auf sich?

Bundesländer wie der Freistaat Sachsen oder Nordrhein-Westfalen oder auch die Städte Frankfurt, Hamburg oder Monheim am Rhein, vergeben mittlerweile jährlich eigene Interrailkontingente an ihre jungen Bürger. Und zwischen Deutschland und Polen ist ein Freundschaftsticket für die Jugend geplant. Das sind beliebte Programme geworden, die den jungen Menschen Europa eröffnen, sie aber zugleich auch zu Botschaftern ihrer Heimat in Europa machen. Gerade in diesen angespannten politischen Zeiten, sollten mehr Länder, Regionen, Städte und Gemeinden Interrailtickets an junge Menschen vergeben, um Brücken zu bauen. Und warum nicht auch gemeinsam mit europäischen Partnerstädten oder Kontingente für ältere Menschen? Sozusagen als Mittel der Verständigung.

Wie würde sich das Lebensgefühl junger Menschen in Europa verändern, wenn eure Idee umgesetzt und jede/r ein Interrail-Ticket bekäme? 

Es kann eine Generation echter Europäerinnen und Europäer heranwachsen. Wenn alle Mitglieder in einer Generation, unabhängig von ihrem Hintergrund, im Laufe ihrer Jugend eine Interrailreise machen, wird das Europa verändern. Wir können uns keine effektivere Methode vorstellen, um Europa zusammenzuführen und ein Band des Friedens und der Verständigung zwischen allen Bürgern zu spannen.

Interrail gibt es schon seit den 70er Jahren – was denkst du, macht den Reiz des Tickets aus?

Interrail bedeutet Freiheit. Einfach einsteigen, losfahren, flexibel die Route wählen. Reservierungspflicht und Zuschläge in Hochgeschwindigkeitszügen haben die Interrailfreiheit zwar eingeschränkt, aber abseits der Schnellfahrstrecken und Metropolen kann man heute immer noch echtes Interrail-Feeling erleben.

Kennst du Nutzerzahlen, wie viele Menschen jedes Jahr mit dem Ticket unterwegs sind?

Mehr als 1,1 Millionen Interrail und Eurail Tickets (das Ticket für Menschen mit Wohnsitz außerhalb Europas) wurden im Jahr 2024 verkauft. Davon waren rund 140.000 Interrailreisende aus Deutschland. In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der deutschen Interrrailer verzehnfacht. Das Ticket und das europäische Bahnfahren erleben eine Renaissance.

Was hat Interrail – und damit die Bahn – für eine Bedeutung für Europa?

Die Bahn ist die Lebensader Europa. Sie verbindet nicht nur Orte miteinander, sondern konkret Menschen mit ihren Ideen, Erfahrungen und Geschichten, sie lässt Freundschaften entstehen, schreibt Liebesgeschichten und erweitert den Horizont. Interrail hat das Reisen weiter demokratisiert und diese Erfahrung mehr Menschen möglich gemacht.

Foto einer Frau, die am offenen Fenster eines Zuges steht.
Lädt zur Nachahmung ein: Eindrücke der vergangenen Interrail-Reise (2023) von Berlin über Budapest, Bukarest, Sofia und Thessaloniki nach Athen.

Lass uns ein bisschen an deinem Interrail-Wissen teilhaben: Was rätst du jungen Menschen für die Bewerbung um ein Ticket?

Immer regelmäßig auf der DiscoverEU Website der EU-Kommission vorbeischauen, um keine Bewerbungsfrist zu verpassen. Und auf jedenfall bewerben, allein oder gemeinsam mit Freunden, wenn man in die Altersrange passt. Die Chancen stehen gut, ein kostenfreies Ticket zu gewinnen.

Und für die Reise: Lieber alles vorplanen oder lieber treiben lassen?

Eine Mischung aus beidem ist gut. Auf populären Routen nach Italien, Spanien, in die Niederlande oder nach Großbritannien sollte man sich rechtzeitig Reservierungen sichern und sich Routen raussuchen. In weiten Teilen Osteuropas oder in ländlichen Gebieten von Frankreich, Deutschland oder Italien kann man sich aber auch einfach treiben lassen.

Welche Fehler sollte man unbedingt vermeiden?

Wer Nachtzug fährt, sollte sich, gerade im Sommer, rechtzeitig um eine Reservierung kümmern, um einen Platz im Schlaf- oder Liegewagen zu bekommen. Auch die Reservierungen im Eurostar, dem ICE nach Amsterdam oder Paris sowie auf den TGV-Verbindungen sollte man rechtzeitig machen. Zu viel planen ist aber auch nicht gut. Auf jeder Interrailreise sollte man sich freie Tage einplanen, in denen man die Gegend in Ruhe erkunden kann.

Letzt Frage: Welche Route würdest du jedem empfehlen, der nur einmal im Leben Interrail macht – und warum?

Eine Alpenquerung sollte jeder einmal gemacht werden, ob klassisch über die Brennerstrecke, blitzschnell durch den Gotthardbasistunnel oder von Ost nach West über die Arlbergbahn. Die Ausblicke sind fantastisch!

Vielen Dank für deine Zeit und deinen Einsatz!

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